Journal ARS 48 (2015) 2

Krista KODRES

Stil und Bedeutung: über konkurrierende Renaissancemodelle in der polarisierten Welt des Kalten Krieges

(Summary)

Hauptgegenstand dieser Untersuchung sind die Texte sowjetischer (auch Sowjetestnischen) Kunsthistoriker zur Renaissancekunst in dem Zeitraum vom Stalinismus bis zur Tauwetterperiode - also der Periode des "Kalten Krieges" von ca. 1945-1965. Diese werden im letzten Teil des Beitrags mit den auf der anderen Seite des "eisernen Vorhangs" erschienenen Texten verglichen. Das kritische Lesen beweist, dass die Renaissance-interpretation in beiden kunsthistorischen Lagern sich vor allem um die Beziehung von Stil und Bedeutung und die Periodisierungsfragen konzertiert hat. Die Fragen, die im Beitrag gestellt sind, sind folglich: Wie wurden die Begriffe Stil und Bedeutung (Inhalt) in der marxistisch-leninistischen Kunstgeschichte der Renaissence erklärt und benutzt, also, was für eine Renaissance dem Publikum angebeten wurde? Gab es und warum es gab innerhalb der sowjetischen Diskurse eine Dynamik? Sind die „westliche“ und „sowjetische“ Renaissance während der Zeitalter des Kalten Krieges total verschieden gewesen? Schon in den 1930er Jahren war in der Sowjetunion man dazu gelangt, die Prinzipien einer marxistisch-leninistischen Kunstgeschichte zu formulieren. Die Grundlage wurde bei den Klassiker des Marxismus entliehen. Fundamental war die Gesellschafttheorie von Marx, entsprechend deren der wirtschaftliche Basis den Wesen des Überbaus (der Kultur) bestimmte. Der zweite Pfeiler war die Theorie von Lenin über zwei Künste in jeder Klassengesellschaft – eine historisch (progressive) der Unterdrückten und eine (negative) der Unterdrücker. Zum dritten spielte die Doktrin des sozialistischen Realismus eine wichtige Rolle. Im Kontext des Beitrags ist auch Friedrich Engels besonders bedeutend, da er in seiner "Dialektik der Natur" die Renaissance als "die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte" charakterisierte. Es war eine Zeit, wo "Italien sich zu einer ungeahnten Blüte der Kunst [erhob], die wie ein Widerschein des klassischen Altertums erschien und die nie wieder erreicht worden." Nach dem 2. Weltkrieg, als Teil einer neuer totalitären Kulturpolitik, definierte man in der SU die Richtlinien für Kunstwissenschaftler, die demnächst in der allunionlichen Zeitschrift „Kunst“ erläutert wurden.1951 erschien ein Sammelband mit Artikeln führender Kunsthistoriker "Gegen die bürgerliche Kunst und Kunstwissenschaft". Im Beitrag werden die Aufsätze von Viktor Lazarev „Gegen die Verfälschung der Renaissance“ und von Michail Alpatov zur "Verteidigung der Renaissancekunst", sowie die Texte, die im Jahre 1952 zum 500. Geburtsjahr von Leonardo da Vinci publiziert geworden sind, näher betrachtet. Man kann verallgemeinern, dass in der stalinistischen Renaissance-diskurse erschien der Stil als der bedeutendsete Kunststil der Geschichte, da dort die realistische Ästhetik und positive gesellschaftliche Inhalt (Humanismus, Antiklerikalismus, Demokratisierung, Entwicklung der Naturwissenschaften, Antigotik) sich total vereinten und weil die Kunst deswegen der weltgeschichtlichen Entwicklung in hohem Masse mitbewirkt hat. Diese „richtige“ Beziehung des Stils und dessen Bedeutung haben dann natürlich auch die Kunsthistoriker der Estnischen SSR auf die Interpretation der lokalen Objekte adaptiert. Im Jahre 1964 erschien in Moskau der Sammelband "Die zeitgenössische Kunstwissenschaft im Ausland". Es war ein Produkt der seit 1955 sich entwickelten „Tauwetter-Zeit“, dessen Folgen im Bereich der Kunst und Kunstgeschichte sich vor allem durch die Revision der Konzeption des sozialistischen Realismus widerspiegelten. Die Handlung der Renaissance von Viktor Lazarev, Boris Vipper und Michail Liebmann stützte sich jetzt auf den in Wahrheit ja längst bekannten Standpunkt der Klassiker, wonach "die ökonomische Basis keinen unmittelbaren Einfluß auf die Kunst habe“. Die Kunst, also, konnte einen relativ selbständigen Entwicklungsweg haben und die holistische Interpetation der historischen Epochen wurde aufgegeben. Darüber hinaus wurde der Begriff „Realismus“ umgedeutet, wobei die Diskussionen um die Grenzen und Formen des Realismus (mit Roger Garaudy "D'une rèalisme sans rivages" (1963) und Bertolt Brecht mit seiner Verfremdungstehorie) wichtige Rolle spielten. Im Jahre 1966 erschien eine Sammlung "Renaissance. Barock. Klassizismus", wo die neue Interpretation der Beziehung von Stil und Bedeutung auch an die Betrachtung der Renaissance angewandt wurde. Einer der Folgen der „Elastizisierung“ des Realismusbegriffs war die Anerkennung der „anderen Renaissance-Stilen“, der Stile ausserhalb Italiens. Zugleich wurde aber auch immer deutlicher, daß der Begriff Stil als hermeneutische Kategorie das Potential zu immer größerer Verschwommenheit hatte. *** Im Gegensatz zur UDSSR, gab es in der westlichen Kunstwissenschaft nach dem Kriege keinen einheitlichen Renaissancediskurs. Immerhin sind sich die Historiographen einig über den entscheidenden Einfluß, den Jacob Burckhardts Buch "Die Cultur der Renaissance in Italien" (1860) und Johan Huizingas "Herbst des Mittelalters" (1919, dt 1931) auf die Interpretation der Epoche hatten. Auf beiden Seiten der Mauer blieben die Periodisierungsfragen in den ersten Nachkreigsdezennien aktuell. Erwin Panofsky in seinem Buch „Renaissance und Renascences in Western Art“ (1960) unterstützte die These des sich auf die antike Erbe stützenden Humanismus, als den entscheidenden epochalen Wendepunkt und als den allerwichtigsten Charakteristik der Renaissance; dementsprechen war Renaissance vor allem eine italienische Erscheinung. Obwohl die sowjetische Kunstwissenschaft der Tauwetter-Zeit die Periodisierung von Panofsky unterstützte, versuchte man aber in 1960er Jahren die Renaissance auch für nordische Länder (Deutschland, Holland) zu konstruieren. Im Gegensatz, Manierismus, dessen Problematik im Westen eine grosse Widergeburt überlebte. wurde in der SU bis zur 1970er Jahren als selbständige Stilepoche wegen ihren sozialen Inhalt (aristokratische Reaktion) sowie „unrealistische“Ästhetik nicht anerkannt. Was die West-Marxisten Friedrich Antal ("Florentine Painting and its Social Background", 1947) und Arnold Hauser ("Sozialgeschichte der Kunst und Literatur",1951) angeht, so inspirierte die sozialgeschichtliche Handlung der Entwicklung der Renaissance die westlichen Kunstgeschichtsschreiber in geringeren Weise; für die sowjetischen aber erschienen Antal und Hauser als nicht genug marxistisch. Die ikonologische Methode wurde in SU wegen das Fehlen der Aufmerksamkeit gegenüber die sozialen Bedeutungen sowie gegenüber "die Fragen des ästhetischen Wertes eines Kunstwerks" kritisch rezipiert (Liebmann 1964). Zusammenfassend kann man behaupten, dass die Renaissenace-Kunstgeschichten der beiden ideologischen Lagern viele Ähnlichkeiten hatten, weil der Rahmen der Behandlungen die im Westen seit dem 19. Jahrhundert entwickelte kunsthistorische Diskurse gewesen ist. Diskursive Verschiedenheiten, die in den Narrativen für Mutationen sorgten, waren dagegen von unterschiedlichen philosophischen Auffassungen über die Welt und die daraus sich ergebenden unterschiedlichen Ideologien bedingt. Demnächst wurde im totalitären System der Sowjetunion auch die gesellschaftlich-ideologische Funktion der Kunstgeschichte enger und politisch gezielter definiert: (Auch) die Kunstgeschichte sollte als ein pädagogisches Instrument an der Erziehung eines neuen, sozialistischen Menschen beteiligt sein.